Die 1955 gegründete Cafe-Kette „Ginza Renoir“ besitzt im Großraum Tokio 123 Filialen, die allesamt mit ähnlichen, wieder erkennbaren Elementen ausgestattet sind. Meist in der Nähe von U-Bahnstationen angeordnet, reproduzieren sie die städtische Organisationsform von Tokio, die ein zentrumsloses Netz von Knoten unterschiedlicher Dichte darstellt, das von Bündeln von dünnen Stromleitungen oberirdisch zusammengehalten wird und unterirdisch durch das rhizomatische U-Bahnnetz der Stadt. An jedem belebteren Knotenpunkt findet sich unweigerlich auch ein „Ginza Renoir“.
Ab 19.1.2023 in der kaffeefabrik mariahilf
Bach – Kantaten, Schubert – Symphonien, dazwischen Kaufhausmusik. Zu leise um genau zuhören zu können und zu laut, um sie zu überhören. Darunter liegend… das leise, aber insistierende Dröhnen der Klimaanlage. – Die akustische Kulisse für Fauteuils in hellgrünem Velours, gepolsterte Sofas mit dunkelblauen Stoffen, 2er Sitzbänke in Altrosa. Auf Teppichböden in rot-grauem Schachbrettmuster. Und immer ein Ausblick auf ein städtisches Szenario, das einem meist allein gehört. Spärlich im Raum verteilte Topfpflanzen, die mit ihrem immer perfekt gepflegten Aussehen dem Ort eine Atmosphäre verleihen, als wäre die Zeit hier irgendwann stehen geblieben. Nur wann eigentlich wäre sie denn dann stehen geblieben? In den 60ern, in den 80ern? In der Vergangenheit oder gar in der Zukunft?
Mit ihren meist raumhoch transparenten Frontfassaden eröffnen sie in den flächigen Collagen der mit Kanji’s, den ehemals chinesischen Schriftzeichen und Neonreklamen zugepflasterten Flächen plötzlich einen Raum. Eine Öffnung, einen Bruch in der flirrenden Bildhaftigkeit der Häuserfronten. Und dennoch sind sie auch selbst ein Bild. Ein Bild eines Raums, der einen Raum verspricht, den wir aus Kinobildern zu kennen vermeinen. Etwa aus französischen Filmen von Godard oder Rohmer aus den 50er und 60er Jahren, – ausladende, großzügige aber gestalterisch nüchterne Räume mit transparenten Fronten nach draußen.
Sehen und Gesehen werden. Im Tokio der Gegenwart wirken diese Orte seltsam disloziert und anachronistisch. Doch genau darin liegt ihre spezifische Qualität. Sie repräsentieren einen anderen Raum und eine andere Zeit, auch wenn man nicht so genau weiß, welche. Sie bieten ein Fenster woandershin, aus der visuellen und akustischen Überfülle rundherum.
Bewegt man sich durch Tokio, so wird man beständig visuell und akustisch mit Bildern und Botschaften eines kontinuierlichen Kommerzraums adressiert, der an seinen Rändern fugenlos in kleinteilige dorfähnliche Wohngebiete übergeht. Ein öffentlicher Raum im europäischen Sinn, der so etwas wie Verweilen, Flanieren, Beobachten, Flirten, politische Demonstrationen oder all die anderen alltäglichen Rituale einer städtischen Selbstdarstellung aufnehmen könnte, existiert in dieser Form in Japan kaum. Distanzierung und Überblick bieten hier nur Orte wie das „Ginza Renoir“
Die „Ginza Renoir“ Cafes bieten zumindest temporär einen sicheren Hafen, der einen an gewohnte Codes westlicher Blickregime anknüpfen lässt, auch wenn die diese Art von Räumen im Westen selbst beinahe verschwunden ist. So bilden sie in den Knoten des städtischen Netzes in Tokio seltsame Reservate, in denen 123 Varianten der Frage durchgespielt werden, wie man heute in Tokio einen Lokaltypus, der für ein Europa der Nachkriegszeit einsteht, sich als Raum gewordenes Bild vorstellen könnte.
Textfragmente aus: Ginza Renoir, TOURISTEN – Magazin von Welt, 2005
Text © Christian Teckert